Von Uwe Meier
Der Beitrag macht am Beispiel von Roh-Kakao deutlich, dass höhere Preise für Rohstoffe bei hoher Produktqualität und öko-sozialer Produktionsweise gerechtfertigt sind und einen wichtigen Beitrag zur wirtschaftlichen und ökologischen Entwicklung und Gerechtigkeit leisten können.
Internationale Qualitätssiegel auf agrarethischer Grundlage sind eingeführt und können helfen, die öko-soziale Situation bei den Produzenten deutlich zu verbessern. Voraussetzung dafür ist jedoch deren Glaubwürdigkeit. Diese ist jedoch nicht unbedingt gegeben und bedarf einer ständigen Überprüfung sowie anwendungsorientierter Forschung. Die Anforderungen an Qualitätssiegel werden diskutiert.
Jorge Pizano, der Kakaobauer
Es war wie immer – heiß und dampfend feucht. Ich lief zwischen den tiefen Fahrspurrillen auf einer Straße. Rechts von mir ein rostiger Stacheldrahtzaun und dahinter die Kakao-Kooperative Rancho Grande im Norden Nicaraguas. Gelegentlich säumten mit Wellblech bedeckte Hütten den Weg. Vor ihnen tummelten sich dreckige Kinder, Hühner und Hündinnen mit langen Zitzen und knuffigen Welpen. Am Himmel vor mir steht eine bedrohlich dunkle Wand. Kurze Zeit später entladen sich die schweren Wolken, alle Schleusen sind offen. Im Nu ist die Straße ein Fluss – „aguacero“, denke ich und frage rasch einen Mann am Gartenzaun, ob ich mich unterstellen dürfe. Ich durfte und schlüpfte unter das löchrige Vordach einer Wellblechhütte. Der Wolkenbruch war so heftig, dass der Lärm auf dem Dach meine Worte verschluckte, und so wartete ich mit dem Mann und seiner Frau, den Kindern, Hühnern, einem Schwein und einer ausgemergelten verflohten Hündin mit ihren Welpen, bis der Wasserfall zum Regen wurde.
Wir stellten uns vor. Die Kinder bekamen Süßigkeiten, die ich Tage zuvor vom Hotelkopfkissen mitgenommen hatte. Ich fragte in meinem etwas unbeholfenen Spanisch den Mann, ob er mir in dieser Gegend Bewohner nennen könnte, die Wissen über Kakaoproduktion haben. Ja, sagte er trocken, ich!
Aus meinen Aufzeichnungen: Name: Jorge Pizano, fünf Kinder, die zwei Ältesten gehen zur Schule.Eigentum drei Hektar. Seit zwei Jahren Anbau von Kakao für den Export im Agro-Forst-System. Das heißt: Mischkultur mit Kakao, Banane, Manjok, Süßkartoffel, Bohnen, Avocado und weiteren Bäumen. Jorge verkauft Feldfrüchte also auch auf den heimischen Märkten und er nutzt die Pflanzen zudem für den eigenen Kochtopf. Respekt, dachte ich mir, der hat`s verstanden. Denn sein Anbausystem stabilisiert die Familienökonomie.
Hinter dem Haus hatte er hoch oben auf einem Mast ein Sonnenpaneel. Auf dem Dach sei das zu gefährlich, sagt Jorge, wegen der Diebe. Die ganze Familie ist stolz auf die Fotovoltaikanlage, die von der Kooperative komme, denn nun könne er zu Hause sein Handy aufladen und die Kinder könnten auch noch am Abend ihre Hausaufgaben machen.
Woher diese Fortschritte, wollte ich wissen. Oh, meinte er, das sei noch nicht alles. Man merke, dass die Freunde aus dem reichen Costa Rica in das Dorf zurückkämen, denn nun gebe es mehr bezahlte Arbeit im Dorf. „Und unsere schönen Frauen bleiben auch hier.“ schmunzelte Jorge.
Woher dieser Wandel, wollte ich wissen. Wichtig sei, so Jorge, dass die Kooperative für den Rohkakao mehr an ihn bezahle, und zwar immer und zuverlässig. Die Kooperative verkaufe den Kakao an ein deutsches Schokoladen-Unternehmen, die allerdings eine sehr hohe Qualität von ihnen verlangten. Seine Frau sei in den Schulungskursen gewesen, bei denen sie lernte, wie hohe Qualität produziert werde. Das sei anstrengend und sehr schwierig, auch wegen des Risikos. Das aber lohne sich alles, weil sie alle besser lebten und ihre Kinder mehr lernten. Schwierig sei das Trocknen der Kakaobohnen, dafür sei es zu feucht bei ihnen, meinte Jorge. Das machten sie dann in der Provinzhauptstadt Matagalpa. Dort sei es trockener und sie kämen auf die geforderten 7 % Produktfeuchtigkeit.
Beeindruckt verließ ich Jorge und seine Familie und fragte mich, warum die großen Welt-Kakaoplayer wie Cargill, Mars und Mondelez (Milka) nicht mehr Geld bezahlen, damit es allen Kakaopflanzern besser geht und alle Kinder zur Schule gehen können. Es scheint ja möglich zu sein.
Nein, dachte ich mir, es ist nicht der anonyme Weltmarkt für Roh-Kakao. Auch Märkte werden von Menschen gemacht; allerdings weit entfernt von Humanität und Gerechtigkeit. Diese Werte scheinen nicht in das Wertesystem der Marktradikalität zu passen.
Ethik, Zertifizierung und Qualitätssiegel
Arbeit im Kakao ist Knochenarbeit. Die geforderte höchste Rohkakao-Qualität herzustellen ist schwierig und risikoreich. Optimaler Erntezeitpunkt, Temperatur und Zeit bei der Fermentation, Reinigung und Trocknung des Rohkakaos sind Herausforderungen, die wesentlich über die Qualität unserer Schokolade entscheiden. Das alles und das schwere Leben der Kakaobauern machte ich mir bewusst, als ich in einem ausgemusterten US-amerikanischen Schülerbus über die holprigen Straßen nach Granada fuhr, einer Kleinstadt am Nicaraguasee mit reichem kolonialen Erbe.
Ich freute mich auf das Hotel, in dem ich mich erholen wollte. Saubere und trockene Bettwäsche, keine Flöhe und Wanzen, eine saubere Toilette und Dusche waren meine bescheidenen Vorstellungen, die sich fast erfüllten, denn Flöhe gibt es anscheinend überall.
In der Hängematte im Patio schaukelnd ließ ich meinen Gedanken freien Lauf. Ich dachte an die Einleitung meines Buches, das ich herausgeben wollte und das noch als Gerippe zu Hause in Braunschweig lag. Es sollte „Agrarethik – Landwirtschaft mit Zukunft“[1] heißen.
Ein wichtiger Grund, dass ich dieses Buch herausgebe, ist, dass alte und immer wieder als richtig erkannte agrarwirtschaftliche Grundlagen kaum noch Beachtung finden. Werte wie Ehrfurcht vor dem Leben werden ökonomischen Zielen untergeordnet. Für ein Innehalten, für ein gemeinsames interdisziplinäres Überlegen nach dem besten Weg unter Berücksichtigung von moralischen, religiösen oder kulturellen Werten außerhalb sogenannter ökonomischer Sachzwänge ist keine Zeit mehr vorhanden. So es denn überhaupt gewollt ist, denn der Weltmarkt sei schließlich unerbittlich.
Die Gedanken an das Buch führten mich ins Internet des Hotels. Ich sah auf den Seiten der großen Agrar-Handelskonzerne nach. Was findet man da nicht alles an Selbstverpflichtungen: Code of Conduct, Social und Ecological Management Systems, das Corporate Social Responsibility (CSR) und die Öko-ISO-Normenreihe 14000 oder die nicht zertifizierungsfähige soziale „Leitlinie“ ISO 26000. Ohne Zweifel sind das doch alles Hinweise für eine Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung durch die multinationalen Handels- oder Agrarkonzerne. Oder etwa nicht? Sicher, sagte vor vielen Jahren mal ein hoher Manager des Bananenkonzerns „Chiquita“ zu mir, die Systeme wirken, aber die bewirken nicht das, was sie versprechen, nämlich eine umweltfreundliche und menschenwürdige Bananenproduktion. Darum produzieren wir nach vorgegebenen Standards des „Sustainable Agricultural Network“ und lassen deren Einhaltung durch ein Audit von unabhängiger Seite bestätigen und zertifizieren. Das Siegel (Label), der grüne Frosch auf weißem Grund der „Rainforest Alliance“, gibt unseren Handelspartnern und den Verbrauchern in Europa Vertrauen, dass das Produkt nachprüfbar sozial- und umweltverträglich ist. Die Standards, die eingehalten werden müssen, stehen im Internet.
Inzwischen gibt es zahlreiche „Labels“ für agrarwirtschaftliche Produkte. Sie werden von Standardinitiativen an Unternehmen vergeben, wenn diese zuvor festgelegte nachprüfbare Sozial- und Umweltstandards in der Produktion einhalten. Das wird von Zertifizierungsorganisationen vor Ort geprüft. Den Einkäufern der Lebensmittelmärkte und Endverbrauchern sind die Labels von „Transfair“ und das EU-Biolabel bekannt. Weniger bekannt in Deutschland sind die Labels von „Rainforest Alliance“, MSC oder UTZ. Hinzu kommen die Öko- und Sozial-Eigenmarken der Lebensmittelkonzerne.
Deutschland – ich sitze im ICE und fahre von Braunschweig nach Stuttgart. Mein Laptop ist aufgeschlagen und ich verfasse diesen Text. Ein kurzgeschorener Mann, neben mir sitzend, sieht auf meinen Text, entschuldigt sich und spricht mich auf meine Ausführungen an. Er stellt sich als Mitarbeiter einer Handelskette vor.
Glauben Sie an die Labels, fragt er mich. Ja, das tue ich, und bin über meine klare Aussage selber erstaunt. Denn im Grunde hege ich tiefe Zweifel an deren Glaubwürdigkeit. Allein die Erfolgsmaßstäbe der Standardorganisationen sind aus meiner Sicht eines Insiders falsch. Es kann nicht um die Größe der weltweit zertifizierten Fläche gehen (derzeit etwa 10 Mio. Hektar), sondern in erster Linie um Glaubwürdigkeit. Aber wie misst man die?
Mein kaufmännischer Begleiter meint, dass die meisten Staaten gute Umwelt- und Sozialgesetze haben, doch die hielten die Unternehmen kaum ein und auch staatliche Kontrollen gebe es keine. Man wolle die Wirtschaft schonen, über jeden Investor sei man froh. Sie wissen schon, Arbeitsplätze und so. Ja, entgegne ich bösartig, wie in Niedersachsen in der Fleischproduktion, in der gibt es ja auch Labels und Selbstverpflichtungen ohne Wirkung. Kein Wunder, sagt eine uns gegenüber sitzende Spiegelleserin: Es gehe schließlich immer und überall um`s Geld, da müsse alles andere zurückstehen. Sowohl die Werte, die unsere Zivilisation ausmachen, als auch die Einhaltung der Umwelt- und Sozialstandards.
Ich klappte das Laptop zu und begann zu dozieren: In der Landwirtschaft wollen wir seit Jahrzehnten die umweltorientierte “Integrierte Produktion“. Diese ist mit dem „Integrierten Pflanzenschutz“ in normativen Regelwerken in vielen Staaten als Ziel verankert, auch in der FAO[2]. Doch umgesetzt wurde bisher fast nichts – auch nicht in der EU. Die politischen Konzepte sind gescheitert. Kulturmaßnahmen, wie die Anwendung von Pflanzenschutzmitteln, orientieren sich nicht an hehren Programmen, sondern am Ertragsverlustrisiko und erwarteten Produktpreis aus.
NGOs in der Agrarwirtschaft, so ich weiter, die, wie der Handel, global vernetzt sind, leisten heute gemeinsam mit den Produzenten und dem Handel einen wichtigen Beitrag. Sie definieren eine exakte Anforderung und begründen und diskutieren diese Standards weltweit, bevor sie in die Praxis übernommen werden.
Sie können und sollen staatliche normative Regelungen nicht ersetzen; sie können jedoch helfen, Grenzen auf der Grundlage von Standards und Indikatoren zu definieren. Sie können Defizite lokalisieren und über Verhaltensregeln einzuhaltende und kontrollierbare Vorgaben machen. Darum brauchen wir Labels. Wir alle, die mit Labels zu tun haben, müssen dafür sorgen, dass sie glaubwürdiger werden, und ihren Ansprüchen nahe kommen. Das ist nur gemeinsam zu schaffen, und – wie viele Beispiele zeigen – auch mit hoher Glaubwürdigkeit.
Nun waren wir in Stuttgart und ich betrat erstmalig diesen skandalumwitterten Bahnhof, dessen Neubau es ja auch an Glaubwürdigkeit mangelt.
Glaubwürdigkeitsdiskurs
Standardinitiativen und die mit ihnen kooperierenden Zertifizierungsorganisationen vermitteln den Anspruch hoher Integrität und Glaubwürdigkeit. Im Grunde leben die Initiativen von dem Vertrauensvorschuss, den der Kunde gibt. Dieser Anspruch ist richtig, doch öffnet sich eine Frage. Nämlich die, ob der Anspruch erfüllt wird. Ist das Zertifizierungsunternehmen glaubwürdig in seinem Handeln? Die Glaubwürdigkeit sollte schon deshalb hinterfragt werden, weil sie das einzig wertvolle Kapital der Standardorganisationen sind und die Organisationen untereinander im Wettbewerb stehen. Es geht um viel Geld. Auch dadurch bedarf der ganze Zertifizierungskomplex einer kritischen wissenschaftlichen Begleitung.
Der Wettbewerb führt zu einer Entwicklung, die bekannt ist und als „Race to the bottom“ bezeichnet wird – also einem Wettlauf hin zu schwächeren Standards und geringeren Kosten, weil die Standardsysteme mit geringeren Standardanforderungen und Zertifizierungskosten Wettbewerbsvorteile haben. Den Erfolgsmaßstab „Größe der zertifizierten Fläche“ zur Bewertung des Erfolgs eines Zertifizierungssystems heranzuziehen, so wie es heute geschieht, ist daher falsch! Nur die Bewertung der Glaubwürdigkeit kann ein gültiger Maßstab sein. Diesem risikobehafteten Thema muss verstärkt Aufmerksamkeit geschenkt werden, weil Glaubwürdigkeit für die Zertifizierung existenziell ist, zumal wenn Zertifizierungen zukünftig verstärkt politisch gewollt sind.
Die gröbsten Problemfelder könnten durch die Einrichtung eines Fonds ausgeräumt werden, aus dem die Zertifizierungsorganisationen bezahlt werden, so dass zwischen diesen und den zertifizierten Unternehmen keine offiziellen Gelder fließen. Sinnvoll wären sicher auch Gebührenkataloge. Besonders wichtig ist der Wechsel von Zertifizierungsorganisationen.
Ein Schritt hin zu einer praktischen Agrarethik besteht darin, global gültige „vitalpolitische Mindest-Standards“ (Ulrich und Busch, 2012) im Bereich des Umweltschutzes und der Menschenrechte in der agrarwirtschaftlichen Produktion und dem Handel zu etablieren. Das können nur starke integre Akteure auf dem Markt sein, sonst werden sie aufgrund des Kostennachteils für ihre „Integrität“ vom Markt bestraft, indem Konkurrenten Kostenvorteile nutzen. Damit der Moralische nicht der Dumme ist, bedarf es ferner fairer Spielregeln, sog. „institutioneller Rückenstützen“ [3] für integere Akteure, die mit den Ressourcen verantwortungsvoll – also kultiviert – umgehen und durch gesetzliche Maßnahmen flankierend geschützt werden.
An diesem Punkt setzen Standardinitiativen der NGOs als Partner der Unternehmen an. Sie führen die Unternehmen auf freiwilliger Basis und transparent an höhere Niveaus zum Schutz der Menschen und der Umwelt heran. NGOs sollten auf die Transparenz achten, sowohl der eigenen als auch auf die der Unternehmen, die in der Produktionskette von Bedeutung sind. Transparenz ist der Schlüssel zur Glaubwürdigkeit, die bei einer Zertifizierung als erstes zu hinterfragen ist. Es reicht nicht, dass auch der Produkthersteller (z.B. Schokolade) ein Biozertifikat hat. Auch er muss nachweisen, dass er auf einem hohen Umweltschutz- und Sozialniveau produziert.
Der Weg der standardorientierten Zertifizierung wird nicht den „süßen Most der schnellen Rendite“ überwinden können. Er ist auch nicht systemverändernd, ja vielleicht ist er sogar „weiße Salbe“ auf der derzeitigen marktradikalen Renditefixierung. Aber der Weg verspicht mehr Humanität und Umweltvorsorge in der landwirtschaftlichen Produktion – hin zu einer Agrarethik.
Diese Ausführungen von Uwe Meier sind entnommen aus dem Buch „Vielfalt statt Einfalt“. (ISBN 978-3-7357-5574-2). Herausgeber: Georg Sedlmaier, 2014. 153-161
[1] Meier Uwe (Hrsg) 2012: Agrarethik –Landwirtschaft mit Zukunft. Agrimedia, Clenze, S. 347
[2]Food and Agriculture Organization
[3] Ulrich, Peter und Thorsten Busch 2012: Nachhaltige Entwicklung kritisch hinterfragt: Drei Orte der Verantwortung einer integrativ verstandenen Agrarethik. In Uwe Meier (Hrsg): Agrarethik –Landwirtschaft mit Zukunft. Agrimedia, Clenze, S. 347