Gladys Leben
Von Uwe Meier
Gladys, so nenne ich sie hier, ist Blumenarbeiterin auf einer Rosenfarm in Kenia. Die Farm exportiert Rosen nach Deutschland. Der Unternehmer und Rosenproduzent hat sich vor fünf Jahren entschieden, seine Rosen umweltfreundlich und sozialverträglich, transparent und nachprüfbar zu produzieren – und das freiwillig.
Gladys hat einen Arbeitsvertrag, geregelte Arbeitszeit mit Überstundenregelung und bekommt eine Entlohnung über dem Mindestlohn. In ihrer Freizeit genießt Gladys ihr Leben. Sie hat Zeit, sich verlässlich um ihre Kinder zu kümmern, die zur Schule gehen, und sie bildet sich fort, denn sie spricht Kisuaheli und möchte noch besser Englisch sprechen und schreiben.
Gladys macht derzeit eine betriebsinterne Fortbildung. Sie ist vom Unternehmen gebeten worden im Kompostmanagement zu arbeiten. Alle Pflanzenabfälle sind wertvolle Rohstoffe, hat sie gelernt, und die Kompostwürmer verarbeiten die Pflanzenreste der Farm in wenigen Monaten zu wertvollem Kompost. Die Rosen, so Gladys, gedeihen mit Kompost besser, brauchen weniger Dünger und sind überhaupt gesünder und kräftiger.
An die Arbeitsbedingungen in anderen Blumenfarmen kann sich Gladys noch gut erinnern: Dort gab es keine oder nur sehr kurze Arbeitsverträge, ständig unangekündigte Wochenendarbeit, jeden Tag Spritzmittel im Gewächshaus, und es gab kaum medizinische Versorgung. Gladys ist froh, dass sie seit einigen Jahren unter besseren Bedingungen arbeitet, den internationalen Umwelt- und Sozialstandards von Fair Trade. Die Regeln des Siegels legen genau fest, wie sich ein freiwillig teilnehmendes Blumenunternehmen den Mitarbeitern und der Umwelt gegenüber zu verhalten hat.
Der Rosenproduzent meint, dass sich die Kooperation mit TransFair bisher gelohnt habe, weil große Handelshäuser in Deutschland, wie z. B. REWE und EDEKA, verlässliche Kunden sind. Diese Handelsunternehmen legen nicht nur Wert auf eine hohe Blumenqualität, sondern auch auf eine hohe Arbeits- und Umweltqualität in der Produktion und auch auf gesiegelte Produkte. Dafür zahlen sie auch einen höheren Preis. Meine Arbeiter, so der Blumenunternehmer, sind stolz darauf, hier arbeiten zu dürfen. Sie wollen, dass es unserem Unternehmen gut geht. Besonders anstrengende Arbeitsphasen, wie zum Muttertag oder Valentinstag, ertragen sie leichter, sie werden seltener krank. Das Image meines Rosenunternehmens ist bei meinen Kunden, wie REWE und EDEKA, gut. Das gibt Planungssicherheit für uns.
Ein langer Weg –
Umwelt und Menschenrechtsstandards in der Agrarwirtschaft
Oktober 1991 – ich saß auf dem Podium in einem Saal in Bogota, der Hauptstadt Kolumbiens. Hunderte von Blumenarbeiterinnen aus den Blumenbetrieben der Sabana de Bogota hatten das „Primero foro de las mujeres del flores“ (Erstes Forum der Blumenarbeiterinnen) organisiert und klagten die Blumenunternehmer an, die Menschenrechte zu verletzen sowie die Umwelt und ihre Gesundheit, insbesondere mit Pflanzenschutzmitteln, zu zerstören. Ich war seinerzeit auf das Podium gebeten worden, weil ich mich in Kolumbien aufhielt, um ein Gutachten über die Bedingungen in der Blumenindustrie zu erstellen. Die Stimmung war hitzig bis aggressiv, auch weil viele Arbeiterinnen entlassen und in den Monaten zuvor Gewerkschafter erschossen worden waren.
Die Blumenunternehmer bestritten die Vorwürfe und warfen der internationalen Menschenrechtsorganisation FIAN vor, eine Kampagne gegen kolumbianische Blumenexporte von Europa aus zu steuern. Mit dem Kampagnenvorwurf hatten die Blumenunternehmer Recht. Diese richtete sich jedoch nicht gegen die Blumenexporte, sondern gegen die Arbeitsbedingungen in den Blumenfarmen. Die Blumenkampage besteht bis heute und sie entfaltete in all den Jahren eine noch immer weit unterschätzte Wirkung – nicht nur in Kolumbien, sondern in vielen Ländern, in denen Schnittblumen produziert werden, auch in Kenia.
Die Kampagne ist erfolgreich. Sie macht auf die Produktionsbedingungen in der weltweiten Blumenproduktion aufmerksam. Als Instrument für bessere Bedingungen nutzt sie von Beginn an Mindest-Produktionsstandards, die freiwillig vom Unternehmen einzuhalten sind. Die Kampagne hat in mühseligen Diskussionsprozessen Prüfkriterien entwickelt, die heute von anderen Nichtregierungsorganisationen (NRO) [1] wie Trans Fair oder Rainforest Alliance weiter entwickelt werden – inzwischen nicht nur für Blumen, sondern für viele Agrarprodukte, wie Kaffee, Baumwolle, Kakao, Palmöl, tropische Früchte usw.
Diese NGOs mit ihren angeschlossenen standardsetzenden Organisationen verlangen nichts Außergewöhnliches. Sie wollen, dass die einheimischen Gesetze und internationalen Regeln eingehalten werden. Grundlage der Regeln ist die Agenda 21, die fast alle Staaten auf der Welt-Umweltkonferenz in Rio de Janeiro 1992 unterschrieben haben. Die Legitimation zur Einmischung in internationale Umwelt- und Menschenrechtsdiskussionen beziehen die NGOs aus dieser Agenda 21. Sie beschreibt unter den Punkten 27.1 bis 27.13 die Mitverantwortung, die zivilgesellschaftlichen Organisationen zukommt, und unter Kapitel 3 die Untrennbarkeit von nachhaltiger sozialer und ökologischer Entwicklung.
Die umweltorientierte landwirtschaftliche Produktion wird in international anerkannten Definitionen als eine „Integrierte Produktion“ beschrieben. Bei ihr müssen alle Möglichkeiten genutzt werden, um so umweltschonend wie möglich die Feldfrüchte anzubauen, wobei ein Verlust des Ertrages zu dulden ist, wenn er sich in ökonomischen Grenzen hält. Diese integrierte Produktion ist mit dem „Integrierten Pflanzenschutz“ in normativen Regelwerken von vielen Staaten als Ziel verankert. Doch umgesetzt wurde wenig. Erst durch die Standardentwicklung der NGOs mit konkret definierten Umwelt- und Sozialkriterien wurde der notwendige Druck aufgebaut, um zumindest im Ansatz Änderungen zu bewirken.
Die BSE-Krise mit ihren Umsatzeinbrüchen im Fleischhandel war Anlass für den europäischen Lebensmittelhandel, verstärkt auf den Produktionsprozess in der Landwirtschaft zu achten und Einfluss auf ihn zu nehmen. Mit GLOBAL GAP (GAP = Good Agricultural Practice) schuf der europäische Handel ein internationales Standard- und Zertifizierungssystem für Lebensmittel. Dabei konnte der Lebensmittelhandel auf die Erfahrungen der NGOs und insbesondere auch des Blumenhandels aufbauen.
Die entscheidenden Anstöße zur Entwicklung von Umwelt- und Sozialstandards für die integrierte Agrarwirtschaft gingen also zu Beginn der 90er Jahre von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und ihren Standardinitiativen aus. Lebensmittelskandale, menschenunwürdige Arbeitsbedingungen und skandalöse Tierhaltungsformen waren und sind Anlass für Handel und Gewerbe, nach Möglichkeiten zu suchen, mit denen sich im globalen Handelsverkehr auf die Nachhaltigkeit der Produktion Einfluss nehmen lässt. Die Zertifizierung mit Standardsetzung bot sich ihnen an, und nichts lag näher als mit den bereits erfahrenen NGOs zu kooperieren. Dieses Vorgehen entspricht nicht nur der Agenda 21, es ist bisher grundsätzlich auch erfolgreich und inzwischen weltweit etabliert.
Produktionsstandards – freiwillig oder durch gesetzliche Vorgaben
Der globalisierte Handel, verbunden mit der Internationalisierung der Wertschöpfungsketten, führt dazu, dass sich international agierende Unternehmen der Steuerung durch Staaten immer mehr entziehen können. Dadurch wird der Handlungsspielraum von Nationalstaaten eingeengt. Internationale Konventionen und Vereinbarungen sind häufig über Willenserklärungen oder gar Leitbilder nicht hinausgekommen und entfalten nicht die notwendige Wirkung zu mehr nachhaltigem Wirtschaften entsprechend der Definition des Brundtland-Reports [2],[3]. Die knappen Kassen der öffentlichen Hand und die Interessen der Regierungen, ihre Wirtschaft zu schützen, bedingen oft Kontrolldefizite. Unter diesen Voraussetzungen bietet sich als Weg die standardbasierte Zertifizierung durch NGOs in Kooperationen mit der Wirtschaft an.
Eng verbunden mit dem schwindenden Einfluss der Staaten auf die Produktionsbedingungen ist der wachsende Einfluss der NGOs mit ihren Zertifizierungsorganisationen. Sie sind als zivilgesellschaftliche Akteure global organisiert und nehmen Einfluss auf die Politikgestaltung und das Wirtschaftsgeschehen. Das führt so weit, dass NGOs inzwischen ordnungspolitische Funktionen übernommen haben. Ohne politisches Mandat und ohne direkte demokratische Legitimation definieren sie inzwischen mit zunehmendem Erfolg, was Nachhaltigkeit im Sinne der Agenda ist, was unter „Integriertem Pflanzenbau“, „Gute(r) Landwirtschaftliche(r) Praxis“ (GLP), „Nachhaltige(r) Forstwirtschaft“ und unter nachhaltigen sozialen Arbeitsbedingungen zu verstehen ist.
Standardinitiativen in der Agrarwirtschaft können heute also gemeinsam mit den Produzenten und dem Handel einen Beitrag leisten, die soziale und ökologische Situation in der Agrarwirtschaft auf der Grundlage einer Agrarethik grenzüberschreitend zu verbessern. Sie können und sollen staatliche normative Regelungen nicht ersetzen; sie können jedoch helfen, Grenzen auf der Grundlage von Standards und Indikatoren zu definieren. Sie können Defizite lokalisieren und über Verhaltensregeln einzuhaltende und kontrollierbare Vorgaben machen.
Die ständige Weiterentwicklung von Umwelt- und Sozialstandards in der internationalen Agrarwirtschaft und deren Umsetzung in verbindliches, praktisches Handeln mit Hilfe von Standardinitiativen bedürfen umfassender und oft schwieriger Kommunikationsprozesse zwischen allen Beteiligten, also den Produzenten, dem Handel und den Konsumenten. Es hat sich inzwischen gezeigt, dass dieser Weg im Rahmen der gegebenen marktwirtschaftlichen Bedingungen zielführend beschritten werden kann.
Auch staatliche Organisationen greifen inzwischen auf Standards und deren Einhaltung durch Zertifizierungsprozesse zurück. Deutschland nutzte deren langjährige Erfahrungen in der Agrar-Standardsetzung und die Erfahrungen der Industrie bei der Zertifizierung, um Standards bei den Biotreibstoffen durchzusetzen. So sind 2009 Nachhaltigkeitsverordnungen für Biokraftstoffe[4] und Biomasse[5] erlassen worden. Die Stoffe dürfen nicht aus Pflanzen hergestellt werden, die auf Flächen mit hoher biologischer Vielfalt und mit hoher Kohlenstoffbindung angebaut wurden. Im Rahmen eines standardbasierten Zertifizierungsverfahrens wird überprüft, ob die Regeln für das freiwillige System eingehalten werden.
Die Kritik an den o.g. EU-Richtlinien und deren nationale Umsetzung ist vielfältig. Positiv wird jedoch hervorgehoben, dass mit dem privat organisierten Zertifizierungssystem der Staat erstmalig normative Regeln für die landwirtschaftliche Produktion setzt, die weltweit gültig sind, sofern die Produkte in die EU eingeführt oder in der EU erzeugt werden. So umstritten diese EU-Richtlinie zu Recht ist, unter den gegebenen politischen Rahmenbedingungen könnten zukünftig grundlegende globale Nachhaltigkeitsprobleme in der Agrarwirtschaft einer Lösung näher gebracht werden. Unabdingbar sind jedoch enge Kooperationen zwischen den Akteuren.
Unter den derzeitigen Bedingungen ist es noch zu früh zu beurteilen, ob es sinnvoll ist, die ökologische und soziale Standardsetzung und die Zertifizierung in gesetzliche, grenzüberschreitende Normen zu fassen. Die Regeln der WTO und die derzeitige marktradikale ökonomische Weltordnung werden dieses kaum zulassen.
Hilfreich wären jedoch Gesetze als „institutionelle Rückenstützen“ (Ulrich und Busch, 2012), um in der internationalen Agrarwirtschaft Standardsysteme mit Zertifizierung im Sinne einer integrierten Produktion verstärkt einzuführen. Zu den Rückenstützen könnten deutlich bessere Verbraucherinformationen mit Hinweisen zu den Produktionsbedingungen (Heißenhuber und Leitner, 2012) zählen und Schulunterricht über gesunde Ernährung (Gottwald e al., 2010) sowie die Bereitstellung langfristiger Forschungsmittel für den biologisch-organischen Anbau. Eine transdisziplinäre Agrarforschung zur Agrarethik sollte etabliert werden (Meier, 2012), Forschungen zur Glaubwürdigkeit der Zertifizierungen und eine verpflichtende enge Zusammenarbeit der Forschungsinstitutionen der Behörden mit den Standardinitiativen der NGOs.
Der Diskurs auf agrarethischer Grundlage und die Umsetzung in der Praxis mit allen Akteuren ist keine Illusion, sondern Realität. Standardinitiativen gehen seit einigen Jahren weltweit Partnerschaften mit Agrarunternehmen jeder Größe ein. Sie beraten Wirtschaftsverbände und Regierungen, und sie nehmen Einfluss auf Unternehmen und agrarpolitische Entwicklungen durch Kommunikation und Normsetzung nach internationalem Diskurs. Dabei stützen sie sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse, internationale Normen und kulturorientiertes Erfahrungswissen.
Standardinitiativen
Als Standardinitiativen werden hier standardsetzende privatwirtschaftliche Organisationen verstanden, die Umwelt- und Sozialstandards in der Agrarwirtschaft organisieren. Die Standardinitiativen haben das Ziel, mit agrarwirtschaftlichen Unternehmen und dem Handel zu kooperieren, um über Standards Einfluss auf das Umwelt- und/oder Sozialverhalten in der Produktion zu nehmen. Für den Lebensmittelhandel wichtige Standardinitiativen, die mit NGOs kooperieren, werden hier kurz vorgestellt:
Der „Marine Stewardship Council“ (MSC) ist eine unabhängige Organisation, die ihr Umweltsiegel an nachhaltig arbeitende Fischereiunternehmen vergibt, um einen Beitrag zur Sicherung von Fisch und Meeresfrüchten für zukünftige Generationen zu leisten. Mit dem Programm, das auf einer kriterienbasierten Zertifizierung beruht, soll das Problem der globalen Überfischung vermindert, der Erhalt der marinen Ökosysteme gefördert und es sollen Arbeitsplätze in aller Welt gesichert werden (www.msc.org, 28.10.2012).
MSC wurde 1997 von der Umweltorganisation WWF und dem Lebensmittelkonzern Unilever gegründet, ist jedoch seit 1999 unabhängig. An den Umweltstandards und Kriterien haben in einem Multi-Stakeholderprozess Wissenschaftler, Fischereiexperten aus Fischereiindustrie, Lebensmittelunternehmen und Umweltorganisationen mitgewirkt.
Der „Forest Stewardship Council“ (FSC) fördert nach eigenem Anspruch eine umweltfreundliche, sozialorientierte und ökonomisch tragfähige Bewirtschaftung von Wäldern. Die unabhängige, gemeinnützige Nichtregierungsorganisation wurde 1993 als ein Ergebnis der Konferenz „Umwelt und Entwicklung“ in Rio de Janeiro gegründet. FSC vergibt nach einem erfolgreichen, standardbasiertem Audit ein Siegel. Dieses weist darauf hin, dass das Produkt aus verantwortungsvoll betriebener Forstwirtschaft stammt. Produkte mit FSC-Siegel werden über die gesamte Handelskette zertifiziert. Für diesen Prozess wurden zehn Prinzipien und 56 Indikatoren entwickelt, auf denen die weltweit gültigen FSC-Standards zur nachhaltigen und sozialen Forst-(Wald)bewirtschaftung basieren (www.fsc-deutschland.de, 29.10.2012).
Die Rainforest Alliance (RA) ist eine US-amerikanische Nichtregierungsorganisation mit Sitz in New York, die sich für den Schutz der Regenwälder engagiert. Unter Federführung der RA entwickelt das „Sustainable Agriculture Network“ (SAN) Umwelt- und Sozialstandards für die Produktion zahlreicher landwirtschaftlicher Produkte. Ursprünglich fast ausschließlich auf Umweltstandards fokussiert, wird der Schwerpunkt zunehmend auch auf die Sozialstandards gelegt.
Das SAN mit Sitz in San Jose/Costa Rica ist eine Kooperationsgemeinschaft von Umweltorganisationen fast aller Staaten auf dem amerikanischen Kontinent (sanstandards.org/sitio, 22.10.2012). Aufgrund des kooperativen Leitbildes arbeitet SAN und RA mit allen Institutionen und Unternehmen zusammen, die den Zielen förderlich sind. Das heißt, auch mit der verarbeitenden Industrie und dem Handel. Diese Kooperationen werden häufig kritisiert, weil mangelnde Unabhängigkeit und Profitorientierung unterstellt wird. Dieser Kritik wird mit dem Argument begegnet, dass nur eine enge Kooperation zwischen Nichtregierungsorganisation, dem Handel und den Produzenten erfolgreich in der praktischen Umsetzung von Umweltzielen und sozialen Zielen sein kann (www.rainforest-alliance.org, 22.10.2012).
Die Standards des SAN entsprechen dem „Integrated Crop Management“, das in seinem Anspruch über die „Good Agricultural Practice“ (GAP) weit hinausgeht. Die Standards werden von einem 12-köpfigen „International Standards Committee“ (ISC) in Kooperation mit kompetenten Institutionen entwickelt und vor ihrer Verabschiedung im „SAN-Board of Directors“ über das Internet weltweit zur Diskussion gestellt. Die Standards werden alle 3-5 Jahre neu diskutiert und der wissenschaftlichen sowie gesellschaftlichen Entwicklung angepasst.
Das Siegel von Transfair, eines von mehreren Fairtrade-Initiativen. Grundlegendes Ziel der Fair Trade-Initiativen ist es, den Produzenten in den sog. Entwicklungsländern eine Entwicklungschance über einen fairen Preis zu garantieren und sie weitgehend vor den Preisschwankungen des Weltmarktes zu schützen. Dafür arbeiten Handelsorganisationen und Netzwerke des Fairen Handels weltweit zusammen. Verbindliche und zuverlässige Handelsbeziehungen mit Produzentengruppen und Unternehmen im Süden und dem Handel sind Grundlage für die Partnerschaften. Die wichtigsten Initiativen im fairen Handel sind die beiden globalen Netzwerke „Fairtrade Labelling Organisation International“ (FLO) und die „World Fair Trade Organisation“ (WFTO). Die beiden Fair Trade Initiativen haben sowohl Umweltstandards auf der Grundlage des integrierten Anbaus entwickelt als auch Sozialstandards, die sich an den ILO-Normen orientieren. Ein zunehmend wichtiges Ziel ist die Förderung des biologisch-organischen Anbaus von Kulturpflanzen (www.transfair.org).
Kritik an Zertifizierungssystemen
Standardinitiativen und die mit ihnen kooperierenden Zertifizierungsorganisationen vermitteln den Anspruch hoher Integrität und Glaubwürdigkeit. Dieser Anspruch bedarf einer Überprüfung, die nur allzu selten durchgeführt wird. Die Glaubwürdigkeit sollte schon deshalb hinterfragt werden, weil die Zertifizierungsorganisationen untereinander im Wettbewerb stehen.
Dieser Wettbewerb findet nicht unter öko-sozialen Prämissen statt, also dem Gedanken, welches System die glaubwürdigsten und sinnvollsten Kriterien hat, die zu mehr ökologischer und sozialer Verantwortung führen. Der Erfolgsmaßstab der Zertifizierungsorganisationen ist die zertifizierte Fläche, auf die gerne mit Stolz verwiesen wird. Doch dieser Erfolgsmaßstab zur Bewertung eines Zertifizierungssystems ist falsch!
Dieser Maßstab führt zu einer Entwicklung, die als „Race to the bottom“ bezeichnet wird – also einem Wettlauf hin zu schwächeren Standards, weil die Standardsysteme mit geringeren Standardanforderungen und Zertifizierungspreisen von der Wirtschaft bevorzugt werden.
Entscheidender Erfolgsmaßstab muss zunächst die Erfüllung von ökologischen und sozialen Zielen in den Betrieben, also die tatsächlich realisierte Umwelt- und Sozialwirkung in den Agrarunternehmen sein.
Bei Unternehmensprüfungen kann sich zwischen der Zertifizierungsorganisation oder den Auditoren und dem zu zertifizierenden Unternehmen ein Abhängigkeitsverhältnis entwickeln, von dem beide Seiten profitieren. Das Unternehmen hat das Ziel, die Unternehmensprüfung erfolgreich zu bestehen, und die Zertifizierungsorganisation möchte zwar ein ordnungsgemäßes Audit durchführen, jedoch auch den Folgeauftrag haben, den es im Grunde nur bei „Wohlverhalten“ bekommt. Hinzu kommt, dass zu viele negative Ergebnisse bei Audits das Geschäft des Zertifizierungsunternehmens negativ belasten. Diesem risikobehafteten Thema muss verstärkt Aufmerksamkeit geschenkt werden, weil Glaubwürdigkeit für die Zertifizierung existenziell ist, zumal wenn Zertifizierungen zukünftig verstärkt politisch gewollt sind und politisch instrumentalisiert werden.
Kritisiert werden die internationalen Agrar-Zertifizierungen auch von sog. Entwicklungsländern. Sie beschweren sich bei der WTO über erschwerte Marktzugänge, wenn nur Güter aus Produktionsbedingungen exportiert werden dürfen, die nach Umwelt- und Sozialkriterien zertifiziert wurden. Damit wäre der Kostenvorteil der Güter nicht mehr gegeben und diese wären auf dem Weltmarkt schwerer absetzbar. Die WTO fühlt sich jedoch nicht zuständig, weil die Zertifizierung freiwillig sei und sie keinen Einfluss auf die Verträge der Handelspartner habe.
Die Zertifizierungssysteme nehmen Einfluss auf Produktionssysteme- und abläufe und geben vor, einer nachhaltigen Produktionsweise dienlich zu sein. Unternehmen in der Produktionskette verlassen sich auf die Zertifizierung. Es ist unverständlich, wenn umwelt- und sozialrelevante Instrumente entwickelt, von der Praxis angewandt und politisch genutzt werden, jedoch eine wissenschaftlich belastbare Qualitätskontrolle im Feld weitgehend fehlt. Es ist erstaunlich, dass Untersuchungen über die Qualität des Audits und der Zertifizierung im internationalen Zertifizierungsmarkt weitgehend fehlen[7] , greifen diese Systeme doch in den Markt ein, sind umwelt-, sozial- und kostenrelevant und normsetzend.
Die Agenda 21 im agrarethischen Kontext
Ethik befasst sich mit der Moral. Sie fragt nach der Begründung, warum etwas moralisch oder unmoralisch ist. Damit lädt sie zur Reflexion und zum Diskurs ein. Die uneingeschränkte Reflexion im Diskurs kennzeichnet den Übergang von einer moralisierenden Fremdbestimmung zu einer Selbstbestimmung und möglichen Selbstbindung aus eigener Einsicht heraus. Diese Haltung stärkt die Motivation, sich zum Beispiel für nachhaltiges Wirtschaften verantwortlich zu fühlen, und führt aus innerem Antrieb dazu, verantwortungsvoll zu handeln.
Es zeigt sich, dass es zur Konfliktlösung zunächst einer begründungsstarken und wahrhaftigen Rechtfertigung der real existierenden Landbewirtschaftung bedarf. Der Ruf nach einem lösungsorientierten agrarethischen Diskurs ist daher überfällig. Wenn die Aufgabe von Ethikern darin liegt, moralische Konflikte aufzuzeigen und sie einer belastbaren Lösung zuzuführen, dann bedarf es einer systematischen Reflexion der weltanschaulichen, moralischen und religiösen Grundlage der agrarwirtschaftlichen Praxis, der Agrarpolitik, der Agrarforschung und der alternativen Optionen, in der die Wahrhaftigkeit und Legitimation des Handelns zu überprüfen ist.
Die Agenda 21 beschreibt nicht nur ein Leitbild, sie stellt auch ethisch orientierte Handlungsoptionen zur Verfügung. Entscheidungsträger sollen sich daran orientieren, ob nachfolgende Generationen noch Wahlmöglichkeiten und Lebenschancen haben. Das setzt ein vernünftiges, also ein auf der Vernunft basiertes Wirtschaften voraus, das nicht Selbstzweck ist, sondern Mittel im Hinblick auf unser „gutes Leben“ in der „Volks-Wirtschaft“ im erweiterten zivilisatorischen Sinne, nämlich im Rahmen eines „kultivierten Benehmens“.
Ein Schritt für eine praktische Agrarethik besteht darin, global gültige „vitalpolitische Mindest-Standards“ (Ulrich und Busch, 2012) im Bereich des Umweltschutzes und der Menschenrechte in der agrarwirtschaftlichen Produktion und des Handels zu etablieren. Das können nur starke integre Akteure auf dem Markt sein, sonst werden sie aufgrund des Kostennachteils für ihre „Integrität“ vom Markt bestraft, indem Konkurrenten Kostenvorteile nutzen. Damit der Moralische nicht der Dumme ist, bedarf es ferner fairer Spielregeln („institutionelle Rückenstützen“ (Ulrich, 2008) für integre Akteure, die mit den Ressourcen verantwortungsvoll, also kultiviert, umgehen und durch gesetzliche Maßnahmen flankierend geschützt werden.
Die globale Agrarwirtschaft braucht einen Paradigmenwechsel, weil sie nicht nachhaltig im Sinne des Brundtland-Reports wirtschaftet. Während derzeit fast ausschließlich betriebswirtschaftliche und unternehmensegozentrische Interessen im Mittelpunkt stehen, die noch nicht einmal eine ökonomische Grundlage haben, weil Gemeingüter über die Externalisierung der Kosten ausgebeutet werden, müssen zukünftig im Zentrum universell geltende, an der Nachhaltigkeit ausgerichtete Werte stehen.
„Institutionelle Rückenstützen“ als konkrete rechtliche Normen sollten einen Wertekanon abdecken, der nicht hintergehbar ist. Erst langsam beginnen die Verantwortlichen die Gefahr der bisherigen Fehlorientierung zu begreifen, aber der „süße Most der schnellen Rendite“ (Altner, 2012) verhindert global alle Neuorientierungen. Begriffen wird langsam in Agrarunternehmen und im Handel, dass ethisch orientiertes Verhalten dem Menschen und der Mitwelt gegenüber eine Rendite über die monetäre hinaus erbringt.
An diesem Punkt setzen Standardinitiativen der NGOs als solide Partner der Agrarunternehmen an. Sie führen die Unternehmen auf freiwilliger Basis und transparent an höhere Niveaus zum Schutz der Menschen und der Umwelt heran. Wichtige ethische Prinzipien werden dabei berührt wie: Transparenz in Forderung und Umsetzung, umfassender Diskurs der Standards im Vorfeld mit allen Beteiligten (Habermas, 1983), Beratung, zunehmende ökonomische Nachhaltigkeit und damit Sicherung von Arbeitsplätzen, Vertrauensbildung in der Handelspartnerschaft auch durch ein Siegel für den Konsumenten, positive Zukunftsorientierung und Teilhabe an ethischer Konsumorientierung und nachhaltiger Entwicklung.
Der Weg der standardorientierten Zertifizierung wird nicht den „süßen Most der schnellen Rendite“ überwinden können. Er ist nicht systemverändernd im ökonomischen Sinne, ja vielleicht ist er sogar „weiße Salbe“ auf der derzeitigen marktradikalen Nutzenfixierung. Doch dieser Weg ist trotzdem richtig, weil Akteure den Weg gemeinsam beschreiten, weil Fehler und Grenzen der standardbasierten Zertifizierung erkannt werden und weil dem Ziel der Generationengerechtigkeit zumindest näher gekommen wird.
Hoch unmoralisch wäre es, wider bessere Erkenntnis und Möglichkeiten nicht zu handeln, weil z. B. das Ziel der ökologischen und sozialen Nachhaltigkeit nicht kurzfristig erreichbar ist. Trotzdem gilt grundsätzlich: Es wird zu keiner nachhaltigen Wirtschaftsentwicklung kommen, solange diese nicht in einen übergeordneten gesellschaftlichen Kontext eingebettet wird – und dies zu leisten ist eine kulturelle und politische Gestaltungsaufgabe, in deren Zentrum die hoch ethische Frage steht: Wie gehen wir mit Lebendigem um?
Fazit
Die integrierte landwirtschaftliche Produktion gilt weltweit als anerkannt zielführender Weg zu einem höheren Umweltschutzniveau in der Agrarwirtschaft. Derzeit ist nicht erkennbar, dass dieser Weg in der agrarwirtschaftlichen Praxis – trotz diverser Absichtserklärungen – erfolgreich beschritten wird.
NGOs, legitimiert durch die Agenda 21, greifen diesen Anspruch auf und formulieren Umwelt- und Menschenrechtsstandards, basierend auf ethischen Werten, die sie in Kooperation mit den Produzenten und dem Handel auf den Märkten einführen. Dieser Weg ist erfolgreich, um eine Agrarethik zu entwickeln, von der alle Akteure profitieren. Mitentscheidend ist die Glaubwürdigkeit der Akteure, die es auf der Grundlage der Wahrhaftigkeit ständig zu hinterfragen gilt.
Literatur
Altner, Günter 2012: Landwirtschaft zwischen Eigennutz und Ehrfurcht. In: Meier, Uwe (Hrsg): Agrarethik –Landwirtschaft mit Zukunft. Agrimedia, Clenze, S. 347
Gottwald, Franz-Theo, Ingensiep, Hans Werner und Meinhard, Marc (Hrsg.) 2010: Food Ethics. Springer , New York, Dordrecht, Heidelberg, London, p. 219
Habermas, Jürgen 1983: Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm. In: Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln. Suhrkamp, Frankfurt/M., 53-125, 113
Heißenhuber, Alois und Leitner, Heidrun 2012: Nachhaltige Landnutzung. In: Meier, Uwe (Hrsg): Agrarethik –Landwirtschaft mit Zukunft. Agrimedia, Clenze, S. 347
Meier, Uwe (Hrsg) 2012: Agrarethik –Landwirtschaft mit Zukunft. Agrimedia, Clenze, S. 347
Ulrich, Peter und Busch, Thorsten 2012: Nachhaltige Entwicklung kritisch hinterfragt: Drei Orte der Verantwortung einer integrativ verstandenen Agrarethik. In Meier, Uwe (Hrsg): Agrarethik –Landwirtschaft mit Zukunft. Agrimedia, Clenze, S. 347
Ulrich, Peter 2008: Integrative Wirtschaftsethik. Grundlagen einer lebensdienlichen Ökonomie. 4. Auflage, Haupt, Bern, Stuttgart, Wien, S. 558
WCED, 1987: Our Common Future. Report of the World Commission on Environment and Development. University Press, Oxford, New York, p. 400
Uwe Meier, Dr. studierte Gartenbau mit den Schwerpunkten Ökonomie und Phytomedizin. Er arbeitete 34 Jahre in der Biologischen Bundesanstalt für Land- und Forstwirtschaft, Braunschweig (seit 2008 Julius Kühn-Institut) im Verantwortungsbereich der Prüfung und Zulassung von Pflanzenschutzmitteln.
Seit 1996 entwickelt Meier Umwelt- und Sozialstandards für die internationale Landwirtschaft. Heute berät er internationale Organisationen, Unternehmen und Verbände in der Standardentwicklung. Meier ist Mitglied im Konvent der Ev. Akademie Abt Jerusalem der Landeskirche Braunschweig. Er war viele Jahre ständiges Mitglied im International Standards Committee des Sustainable Agriculture Network, San Josè / Costa Rica und der Rainforest Alliance/ New York.
Diese Ausführungen von Uwe Meier kommen aus dem Buch „Essen & Moral – Beiträge zur Ethik der Ernährung“ von den Herausgebern: Franz-Theo Gottwald und Isabel Boergen, Schweisfurth-Stiftung München. Metropolis Frankfurt 59-7
[1]resp. NGO zu engl. non-governmental organisation
[2]Das Konzept der Nachhaltigen Entwicklung definierte die Brundtland-Kommission (in ihrem Bericht auf zwei Arten:
1. „Dauerhafte Entwicklung ist Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können (Generationengerechtigkeit)“.
2. „Im wesentlichen ist dauerhafte Entwicklung ein Wandlungsprozess, in dem die Nutzung von Ressourcen, das Ziel von Investitionen, die Richtung technologischer Entwicklung und institutioneller Wandel miteinander harmonieren und das derzeitige und künftige Potential vergrößern, menschliche Bedürfnisse und Wünsche zu erfüllen.“
Diese Definition wird seltener zitiert. Sie beinhaltet die Forderung einer ganzheitlichen Verhaltensänderung, die deshalb politisch weniger konsensuale Anerkennung findet.
Die Veröffentlichung des Brundtland-Berichts gilt als der Beginn des weltweiten Diskurses über Nachhaltigkeit bzw. Nachhaltige Entwicklung. Auf seine Veröffentlichung folgte 1989 die Einberufung der Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung (als Rio-Konferenz oder Erdgipfel bekannt), die im Jahr 1992 in Rio de Janeiro stattfand. Der Brundtland-Bericht sollte in internationales Handeln umgesetzt werden, hierfür wurde die Agenda 21 beschlossen. (Wikipedia, 26.10.2012)
[3]World Commission on Environment and Development (WCED, 1987)
[4]Verordnung über Anforderungen an eine nachhaltige Herstellung von Biokraftstoffen, (Biokraftstoff-Nachhaltigkeitsverordnung = Biokraft-NachV) vom 30. September 2009
[5] Verordnung über Anforderungen an eine nachhaltige Herstellung von flüssiger Biomasse zur Stromerzeugung (Biomassestrom-Nachhaltigkeitsverordnung = BioSt-NachV) vom 30. September 2009
[6] www.sanstandards.org (06.10.2012)
[7]Das Department für Agrarökonomie und Rurale Entwicklung – Marketing für Agrarprodukte und Lebensmittel der Universität Göttingen befasst sich wissenschaftlich mit der Qualität von Zertifizierungssystemen.